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Wir sind Strukturwandel
Foto: Marco Steppniak

Wir sind Strukturwandel

Lesedauer: ca. 3 Min. | Text: _Redaktion _RDN

Ab 2026 haben Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung einen gesetzlichen Anspruch auf eine wohnortnahe, inklusive Betreuung ihrer Kinder. Wir wird aus dieser Vision Wirklichkeit?

1994, ein Kindergarten im Vest: Der Regenbogenfisch wird vorgelesen. Die Geschichte eines Fisches, der zeitlebens mit schillernden Schuppen gesegnet war. Er war nicht wie die anderen. Nachdem er seine Schuppenpracht mit den anderen Meeresbewohnern geteilt hatte, gab es ein großes buntes Fest und alle waren froh. Zwei Räume weiter wird Macarena getanzt. Ein Kind zögert. Vielleicht fehlt die Koordination, vielleicht mag es keinen Körperkontakt, vielleicht kann es sich nicht ausdrücken. Es weint oder schreit. Ein anderes Kind sprüht vor Energie. Es tobt und wirbelt. Beides passt nicht in die homogen sozialisierte Gruppe. Übersprudelndes Glück, aufschäumender Zorn, entartete Emotionen im Generellen, können einen an den Straftisch befördern. Hier wird pädagogisch gepuzzelt, um die kindlichen Ausdrucksweisen in Etikette zu hüllen.

2024, ein städtisches Familienzentrum: hier tummeln sich alle Kinder. Ob mit körperlichen und geistigen Behinderungen, neurodivergenten sowie sozial-emotionalen Störungen und ohne, brüllend laut oder mucksmäuschenstill. Kinder, deren Eltern auf Kohlen geboren wurden, und jene mit Fluchterfahrung. Eine Aufzählung ohne Ende, dafür mit Leitmotiv: Jedes Kind wird individuell gefördert. Es gibt Spielzeug in der Ausführung „Lebensrealität“: Playmobil mit Rollstühlen, Puppen mit verschiedenen Hautfarben, Bücher mit diversen Charakteren und Familienmodellen – so sieht das echte Leben aus.

Alles in Bewegung

Es ist kein erhobener Zeigefinger, im Gegenteil: Es zeigt die progressive Entwicklung der letzten 30 Jahre und die Dynamik der nächsten. Denn 1994 war nüchtern und sachlich betrachtet alles anders. Alleinerziehende oder voll berufstätige Elternpaare waren nicht die Regel. Kinderbetreuung nach 12 Uhr eine Seltenheit. In heilpädagogischen Einrichtungen wurden Kinder mit Behinderungen exklusiv betreut. Wer eine schwache Impulskontrolle, vielleicht ADHS hatte, sah eher den Puzzletisch, als Verständnis. Man wusste nicht, was man heute weiß. Keine Ausrede, sondern Realität. 1994 war die Vision von inklusiver und individueller Förderung das leise Rauschen des Verkehrs in der nächsten Großstadt. Heilpädagogische Einrichtungen werden immer noch gebraucht, gleichzeitig hat man sich auf den Weg gemacht, Teilhabe und Inklusion überall zu leben – mit oder ohne Diagnose.

„Wir arbeiten mit kleineren Gruppen im pädagogischen Alltag. Zum Beispiel mit Vorschulkindern als homogene Gruppe, um sie gut auf die Grundschule vorzubereiten.“, erzählt Barbara Lukoschek, wie es bei ihr funktioniert.

Lange To-Do-Liste

Tanja Kerle, Jugendhilfeplanerin und Abteilungsleiterin im Familienbüro und Ute Bartling-Schönknecht, Fachberaterin für Inklusion der Stadt Recklinghausen wissen: Eine Vision zu haben ist bedeutend einfacher, als sie umzusetzen. Mit Blick auf alle 65 Einrichtungen in Recklinghausen betrachten sie den Weg, der geebnet werden muss: „Mit einer Betreuung von bis zu 45 Stunden in der Woche haben Kinder quasi einen Arbeitstag in der Kita. Früher gab es Butterbrote, heute müssen bis zu 70 Kinder verköstigt werden – frisch, halal, gluten- oder laktosefrei. Das muss übergreifend möglich gemacht werden“, erzählt Tanja Kerle und übergibt die Expertise an Ute Bartling-Schönknecht: „Momentan ist der Fachkraft-Kind-Schlüssel zu hoch. Eine Gruppe mit 24 Kindern ist laut. Ein Kind, das Reize nicht filtern kann, ist überfordert“. Es muss noch einiges passieren.

Eine Frage der Haltung

Im Durchschnitt zeigen die ersten 14 Kita-Monate, welcher Bedarf gedeckt werden muss, weiß Tanja Kerle: „Ein Kind im Rollstuhl kommt mit einem Antrag und der zugeordneten therapeutischen Person in eine Kita. Eine Autismus-Spektrumsstörung oder die Tragweite eines Traumas zeigen sich erst mit der Zeit und müssen anerkannt werden.“ Das kostet Zeit, Geld, Personal und Nerven. Die Politik sieht bisher keine Fördergelder vor. Hier setzt die Hoffnung auf den Fortschritt der letzten Jahrzehnte. Denn: „Die Struktur muss sich anpassen, nicht die Menschen“, betont Barbara Lukoschek. Wo letztendlich am grünen Tisch der Rahmen für die nächsten fünf Jahre verhandelt wird, zeigt die Praxis im Vest schon viele Jahre starke Haltung.

 
Info
Familienbüro Recklinghausen

Große-Geldstr. 19 

45657 Recklinghausen


02361 502323

www.kita-navigator.org

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